H E F T — LOADED EMPTINESS: ÜBER DAS ATMOSPHÄRISCHE POTENTIAL LEERER RÄUME // Valerie Messini

Die Heft ist eines der wichtigsten Bauwerke in Domenigs Œuvre – mit Sicherheit mein Favorit, da die Heft so viel mehr ist als nur ein Gebäude. Der Ort ist magisch wie Stonehenge“, liest man auf nextroom.[1] Sie ist eine Erfahrung, ein Zustand, eine atmosphärische Entität. 

Aber zunächst ist Heft eine Ortschaft in der Gemeinde Hüttenberg in Kärnten. Seit Jahrhunderten steht hier eine Hochofenanlage – die Kathedralen der Heft“, wie Domenig sie nannte.[2] In dieser Gegend wurde schon seit der Antike Erz abgebaut und zum berühmten ferrum noricum“ verarbeitet. Die Anlage wurde 1857 zu einem der ersten Bessemer-Stahlwerke Österreichs ausgebaut, 1908 jedoch stillgelegt. Der Hüttenberger Erzberg folgte 1978. Ein Zubau zur ehemaligen Hochofenanlage wurde anlässlich der Kärntner Landesausstellung 1995 Grubenhunt und Ofensau zwischen 1993 und 1995 nach einem Entwurf[3] von Günther Domenig errichtet und zeigt seinen gekonnten Umgang mit historischer Bausubstanz.[4] Nach der Landesausstellung gab es vermehrte Versuche, die Heft am Leben zu erhalten, wie beispielsweise die Biennale Austria 2002. Sämtliche Nachnutzungskonzepte waren aber leider nur von kurzer Dauer oder scheiterten von vornherein kläglich, meist wegen der zu hohen Kosten. Schließlich wurde vor mehr als zehn Jahren der Strom abgedreht.

Trotz ihrer Relevanz in der lokalen Identitätsstiftung sowie im internationalen Architekturdiskurs bekommt die Heft weder unter Architekt:innen noch im regionalen Gefüge die entsprechende Anerkennung. Auch die politische Geschichte des Ortes ist nicht unproblematisch, geschürt durch die Person Domenigs, der sich im Zuge des Umbaus in den 1990er Jahren in Opposition zur damaligen lokalen Politik stellte. Im Mai 2022 macht die Heft nach ihrem jahr(zehnt)elangen Winterschlaf wieder Schlagzeilen: Heft in Hüttenberg wird zu Ehren Günther Domenigs wachgeküsst‘.“[5] Das ehemalige Landesausstellungsgebäude ist zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder dem Publikum zugänglich und wird mit Kunst und Architektur sowie den unterschiedlichsten Veranstaltungen bespielt: Die Heft passt sich agil an die wechselnden Nutzergruppen und ‑bedürfnisse und setzt jegliches Programm[6] gleichermaßen außergewöhnlich in Szene. Daher resultiert meine Position, die Heft benötige keine neue und vor allem keine festgeschriebene Nutzung, damit sie wieder lebt“. Die reine Öffnung reicht.


Raum räumen – Void – Free Space


Das Verb räumen“ bedeutet entleeren, Platz oder eben Raum schaffen. Man kann zum Beispiel eine Straße räumen lassen, vom Schnee oder von den Menschen. Also wird auf- oder weggeräumt. Der Raum ist dann negativ durch Absenz definiert“[7]. Mein Hauptbestreben beim Kuratieren der Heft war es, zuerst einmal den Raum zu räumen. Die Heft wird selbst Hauptdarstellerin der Ausstellung. In einem zweiten Schritt interagieren die Künstler:innen mit ihr, damit sie dann besucht und erlebt werden kann. Auf keinen Fall wollte ich die Heft zu-räumen und ablenken, durch zu viele Ausstellungsobjekte die reine Raum-Wahrnehmung stören. Die Kunst soll im Gegenteil verschärfend wirken und akzentuieren. Die Bedeutung der Leere ist zentrales Thema. Hier ist nicht nur das programmatische Nichts des über zehn Jahre verlassenen Baus gemeint, sondern auch die formale Leere: die negativ-Volumen der leeren Hochöfen und Domenigs brückenartiger Zubau, der eine Referenz auf den unterirdischen Stollen ist, legen diese Debatte nahe.

Ein Prototyp eines absolut leeren Raumes ist das Pantheon in Rom – der Raum aller Götter. Absolut leer, vermittelt das Pantheon dennoch oder vielleicht gerade deshalb ein starkes Raumgefühl. Wer hier hinein geht und nichts spürt, dem ist nicht zu helfen“, bestätigt Volker Giencke.[8] Eine Kuppel mit einem Durchmesser von 43,3 Metern bildet einen rund 53.000 Kubikmeter großen, sehr atmosphärischen Raum. Diese Leere kulminiert in einer etwas mehr als 100 Kubikmeter großen Öffnung – einem Loch am höchsten Punkt. Ein Loch kann an sich ebenso viel Formbedeutung haben, wie eine feste Masse“, argumentiert Henry Moore.[9] Gefülltes Volumen und Leere sind im Raum gleichwertig. Das zeigte Georges Vantongerloo 1917 mit folgender Gleichung: Volumen + Leere = Raum“[10]. Vantongerloo und Moore haben ihre Formen schon früh von repräsentativen und figurativen Inhalten befreit, um durch Abstraktion die den Formen innewohnende Bedeutung freizusetzen. Aber auch der Dekonstruktivismus subsumiert eine Vielzahl an Projekten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei der Entwurfsprozess hauptsächlich von der Idee der Dekonstruktion von Volumen sowie der Konstruktion von leeren und fließenden Räumen angetrieben wurde. Wie Wigley betont: The projects […] mark a different sensibility, one in which the dream of pure form has been disturbed. It is the ability to disturb our thinking about form that makes these projects deconstructive.“[11] Dekonstruktivistische Architektur zeichnet sich für mich durch ihre inhärente Dynamik und den Befreiungsdrang von vordefinierten Typologien aus. Viele der Projekte erlangen dadurch einen transformierenden Charakter – auf einer städtebaulichen Ebene gleichermaßen wie auf einer persönlichen Erfahrungsebene. Die Erschließung und die Raumwahrnehmung sind zentral. Die generierten Räume sind skulptural und fließend, die Grenze zwischen Außen und Innen verzerrt, die Blicke multidirektional. Genauso ist die Heft bestimmt von Ineinanderstülpungen von Innen- und Außenräumen. Domenig legt den Balken“ – das gebaute Negativ-Volumen des Stollens – in einem Winkel zum Bestand (dem Kohlebarren) an, ermöglicht dadurch Einblicke in die Ruinen und schafft Dynamik. Liesbeth Waechter-Böhm meint: Er [der Balken] fährt wie ein Hochgeschwindigkeitszug über die ganze Anlage hinweg, funktioniert gleichzeitig auch als eine Art Klammer, die die Einzelteile des Areals zusammenhält, und er gibt eine Richtung an.“[12] Also haben Domenigs skulpturale Verschneidungen von Alt und Neu das Ziel, Raum freizusetzen. 

Frei(gesetzt)er Raum war das Hauptthema der 16. Architekturbiennale in Venedig, die vom 1978 gegründeten Architektinnen-Duo Grafton Architects kuratiert wurde und unterschiedlichste architektonische Befreiungsakte zeigte. Yvonne Farrell und Shelley McNamara deklarieren: FREESPACE konzentriert sich auf die Fähigkeit der Architektur, denen, die den Raum nutzen, kostenlose räumliche Geschenke zu machen und die unausgesprochenen Wünsche von Fremden vorwegzunehmen. […] FREESPACE kann ein Raum der Möglichkeiten sein, ein demokratischer Raum, ohne Programm, einem Gebrauch zugänglich sein, der noch nicht erdacht worden ist. Ob gewollt oder nicht, zwischen Menschen und Bauwerk gibt es immer eine Verbindung, Gebäude selbst finden einen Weg, sich den Leuten mitzuteilen und über die Zeiten hinweg zu dienen, lange nachdem der Architekt die Bühne verlassen hat. Architektur hat ein aktives wie ein passives Leben. FREESPACE beinhaltet die Freiheit sich vorzustellen, den freien Raum der Zeit und Erinnerung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden, auf ererbten kulturellen Schichten aufzubauen, das Archaische mit dem Zeitgenössischen zu verweben.“[13]

Die Heft ist ein Free Space, oder sie könnte es sein, würde man sie öffnen. Im Sommer 2022 war sie offen, (auf)geräumt[14], durch Interventionen akzentuiert und mit Events bespielt. Sie war eine Bühne für Kunst und ein Ort für regional-internationalen Austausch: ein Art Free Space“. Die Ausstellung ist im Spirit der Heft nie abgeschlossen, sondern kontinuierlich gewachsen[15] und spiegelt so ihr Wesen. Kern meines kuratorischen Konzeptes war die Frage nach der Beschaffenheit zukünftiger Schichtungen durch Kunst, Menschen und Natur. So erzählt die Ausstellung nicht nur die Geschichte der Heft, sondern fordert auch eine Zukunft.


VERLASSEN


Die Heft ist ein Paradebeispiel einer heute ungenutzten Architektur der 1980er und ‑90er Jahre, von denen es in Kärnten mehrere gibt. Es ist höchste Zeit zu überlegen, welche Möglichkeiten es für solche verlassene Gebäude gibt, deren vollständige Renovierung oft unwirtschaftlich scheint. 

Die Architectural Association (AA) nanotourism Visiting School untersuchte in den letzten Jahren, wie verlassene Orte durch minimale Interventionen reaktivierbar sind. In der Heft werden zwei ihrer installativen Eingriffe[16] gezeigt, die das versteckte Potenzial unterbenutzter Kulturbauten beleuchten. Aljosa Dekleva (et al.) erläutern: Ausgehend von den ausgestellten Beispielen schlagen wir vor, dass die Wiederbelebung der Heft aus einer kreativen Programmierung besteht, die lokale Besonderheiten durch Partizipations- und Mitgestaltungsprozesse einbezieht. Die monumentale Leere der Heft ist eine Gelegenheit für neue hybride soziale Lebensformen, die die lokale und globale Gemeinschaft zusammenbringen.“[17]


NATÜRLICH


Durch den jahrzehntelangen Leerstand ist eine einzigartige Situation von fortschreitender Überwucherung durch die Natur entstanden, welche die räumliche Qualität der ruinösen Architektur verschärft. Die Ruine ist nicht nur die Nähe zu etwas bereits Geschehenem, sondern auch die Nähe zu den gescheiterten Zukünften der anderen. Da, wo Träume, Utopien und Ideologien aufsteigen und wieder untergehen, kollabieren Natur und Kultur ineinander, sickern durcheinander durch und bauen ein gemeinsames Ökosystem auf, das die Kategorien künstlich und natürlich selbst ad absurdum führt“, illustrieren Mihály Németh und Sophie Publig.[18] Diese leicht dystopisch anmutende und definitiv post-anthropozentrische Atmosphäre, die der Anlage innewohnt, hat eine eindrückliche räumliche Ästhetik, aber auch Ethik: Die Natur, die Architektur und die Ruine bilden eine pluriversale Ökologie, einen Ort artenübergreifender Koexistenz. Jüngere Konzepte der Biologie und Philosophie […] verhandeln – ganz im Sinne des New Materialism und der Forderungen der ökologischen Krise – die Grenze zwischen Lebenswelt und Ökosystem auf erfrischende Weise neu. Die Heft‘ ist nicht nur ein guter Ort, um über die fehlende Balance zwischen Mensch und Natur, über die Kraft der natürlichen Sukzession oder das Werden der Dinge nachzudenken, sondern auch, um landschaftsarchitektonische Strategien zur Bewältigung der Spätfolgen menschlicher Eingriffe in die Natur zu analysieren, um sich, ganz allgemein, mit einem neuen Ethos im Umgang mit unserer natürlichen‘ Umwelt zu befassen“, wie Albert Kirchengast reflektiert.[19]

Die Installation Tote Steine“ von Albert Kirchengast und den Studierenden der FH Kärnten übergibt der Natur die Autor:innenschaft. Plätschernd und die Wand befeuchtend schafft ein kleiner Wasserstrahl einen atmosphärischen Raum, gemeinsam mit der Erde, die anfänglich die Scheiben verdunkelt und allmählich – von der Sonne ausgetrocknet – bröckelt. Die im Raster verlegten Fliesen sind dereguliert, der ungeordnete Kies hingegen wie ein Zen-Garten gerecht und die Besucher:innen entschleunigt. In der Mitte des Raums ist ein Steg, an dessen Ende man einen kleinen, grauen Zettel findet mit einer Notiz, einem Gedicht – einer Projektbeschreibung: 


Die Welt ist vor allem das, was die Pflanzen daraus zu machen wussten. Emanuele Coccia

Uns ist eine Quelle zugeflossen.

Wir haben ihr Wasser geleitet, Boden bewegt,

Gärten gegründet, den einen auf Metall, den anderen auf Stein: 

Hier wächst Farn, der als Kohle jenes Feuer nährt, das die Elemente trennt.

Das Licht kommt immer von oben. “ [20]


Das Metall und die Kohle sind Zeugnis der montanindustriellen Vergangenheit der Marktgemeinde Hüttenberg. Charakteristisch für die Heft ist der Gegensatz der beiden vorgefundenen Bauformen. Hier ergänzen einander Alt und Neu nicht, sie widersprechen einander aber auch nicht. […] Und was nur sehr selten gelingt: Die neuen Bauteile steigern die atmosphärische Wirkung des Alten“, erkennt Liesbeth Waechter-Böhm an.[21] Das historische Eisenwerk ist ein massiver Ziegelbau, dessen Gestaltung sich direkt aus den topografischen Gegebenheiten und funktionalen Anforderungen für den industriellen Eisenerzabbau ableitet. Dem setzte Domenig ein leichtes Stahlfachwerk entgegen, dessen Gestalt weniger der Funktion als vielmehr einer architektonischen Idee geschuldet ist. Der Tendenz Richtung Idealismus und weg von der schweren Materie folgend stellt sich die Frage nach der nächsten, zukünftigen architektonischen Schicht: immateriell, virtuell und digital? 


VIRTUELL


In den 1960ern arbeiteten Walter Pichler und Hans Hollein gemeinsam an einem neuen Architekturbegriff, der, befreit von den Zwängen des Bauens, eine Erweiterung des Raums eröffnen sollte. Zur gleichen Zeit entwarf Ivan Sutherland gemeinsam mit seinen Studierenden an der Harvard University den Head-Mounted-Display, das erste Virtual-Reality-System. Auch Günther Domenig und Eilfried Huth suchten nach von der Materie gelösten Definitionen für Raum: Medium Total […] symbolisiert ein biomorphes, autarkes Gebilde, durchzogen von sensoriellen Kanälen und technischer Infrastruktur in Anlehnung an die Arbeiten des Künstlers Walter Pichler in den 1960er Jahren.“[22]

Diese Idee der Transformation von Architektur zu einem mutierten biologischen Organismus veranschaulichen die Studierenden Alina Logunova, Peter Marius, Tomaž Roblek und Adam Sinan mit ihrer Augmented Reality-Installation Cyber Nature: Über ein Smartphone sieht man, wie graphische Elemente aus den Medium Total-Zeichnungen von Domenig und Huth pflanzenähnlich den Hochofenschacht nach oben wachsen. Das Projekt zeigt eine kybernetische Natur, die eine neue dynamische Schicht bildet.[23] An der Universität für angewandte Kunst Wien wurden im Seminar Other Matter[24] die Möglichkeiten der virtuellen Raumbevölkerung durch den spielerischen Einsatz von Augmented Reality untersucht. Es entstanden ephemere, audiovisuelle Objekte, Strukturen oder Installationen, die im Dialog mit dem bestehenden architektonischen Kontext der Heft stehen und neue medienzentrierte Raumerfahrungen ermöglichen. Die AR-Installation Synthetic Reciprocities zeigt eine synthetische Überwucherung: riesige Blätter und Pilze wachsen aus den Wänden und werden zunehmend größer, versperren den Weg. Diese Arbeit sensibilisiert für das Leben von Gebäuden und ihren Bewohner:innen, den Charakter von Ruinen und die Hinterlassenschaften des Anthropozäns. Sie will natürliche Agenten stärken, um den künstlich rationalisierten Raum neu zu besiedeln.[25]


ATMOSPHÄRE UND PRÄSENZ


Brigitte Mahlknecht begreift Raum in ihrer Arbeit Invisible World, Teil der Bespielung der Heft, als Erfahrungsraum, als philosophische[n] Raum im phänomenologischen Sinn, überlagerte und sich durchdringende Räume, der Raum als poetischer und als politischer Raum“.[26] Sie beschreibt performative Räume, die körperlich erfahrbar sind und ein affektives Potenzial bergen. Marie-Luise Angerer spricht von einem somatischen, affektiven turn“[27], berichtet von einem allgegenwärtigen Aufschwung des Affektiven in Kunst‑, Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Medientheorien. Das gesteigerte Interesse an den Affekten zeugt von einer Sehnsucht nach einem Realitätsbegriff, der über eine sprachlich-analytische Reflexion hinausgeht und einen Zugang zur Welt auch über ästhetische Wahrnehmung eröffnet. Angerer zeigt auf, dass das Digitale und das Affektive eine Gemeinsamkeit haben: beide wollen einen unmittelbaren Zugang zum menschlichen Gehirn bzw. Organismus herstellen. Die Gefühle werden zum Medium zwischen Körper und Geist, was das Konzept eines bewusst handelnden Individuums ins Schwanken bringt und zu einer fortschreitenden Auflösung der Grenze zwischen Mensch / Tier / Maschine führt.[28] Nikolaus Kuhnert (et al.) schließt daraus, dass die Wirkung von Architektur wieder in den Vordergrund tritt, und zwar Wirkung in dem Sinne, dass die Architektur fähig ist, (alternative) Lebensentwürfe zu projektieren. Über die Effekte, die wiederum Affekte produzieren, soll Architektur unmittelbar und nicht über den Umweg der Sinndeutung wirken.“[29] Ole W. Fischer präzisiert: „[Denn] die atmosphärische Interaktion‘ erscheint als eine vorbewusste, präsprachliche, kognitive Reaktion, die beim Affekt ansetzt“ und ist besonders (als Entwurfsmethode) geeignet für eine konzeptionelle Einbeziehung der Wahrnehmung und Vorstellungswelt des Betrachters“.[30] Unterschiedlichste Regime schufen seit jeher atmosphärische Architektur in Form von imposanten Sakralbauten als Herrschaftsinstrument. Allerdings ist die Wahrnehmung auf eine vorbestimmte Perspektive reduziert. Davon emanzipieren sich die Protagonisten der Post-Criticality und fordern die Produktion von individuellen, mehrdeutigen und synästhetischen Rezeptionsmöglichkeiten“.[31] Die Tatsache, dass Atmosphäre individuelle Rezeption ermöglicht, zeugt von ihrem identitätsstiftenden Potenzial. Das ist vergleichbar mit Judith Butlers Verständnis für Körper als aktiver Prozess der Verkörperung bestimmter kultureller und historischer Möglichkeiten“.[32] Für sie ist der Prozess der Verkörperung ein Prozess der performativen Schaffung von Identität. In der Moderne stand eine rein analytische und kritische Diskussion im Mittelpunkt der meisten Disziplinen. Das ästhetische Erleben wurde als zweitrangige, eigentlich erst aus dem analytischen Wert resultierende Qualität gehandelt: die Sinne waren der Ratio untergeordnet. Marie-Luise Angerer zeigt auf: Mit dem Begriff der Präsenz werden Körper und Sinne wieder in den theoretischen Diskurs eingeführt.“[33]

Aus dem Hochofen haucht Poesie heraus, eine alte Stimme, ein Mann, digital bearbeitet, hoffnungslos, düster, und gleichzeitig faszinierend. Die Ästhetik dieser Klanglandschaft scheint verwandt mit der Atmosphäre des Bergbaus. Zahlreiche Videos – auf kleinen Bildschirmen quer durch die Heft verstreut – zeigen den menschlichen Körper im Kontext der Heft und der Natur Hüttenbergs. Die repetitiven Bewegungen aus architektonisch bezeichnenden Perspektiven gefilmt enthüllen den Puls der Heft. ARobota+ deklariert: We dance, we browse, we ship from anywhere […]. Our method is playing, to continue the play, we change the way we play.“[34]

Die Sinne sind auch im Zentrum der Arbeit von Florian Hecker. Er interessiert sich für Hörprozess und Hörerfahrung des Publikums. Durch seine synthetischen Klänge schafft Hecker einen abstrakten, aber körperlich äußerst erfahrbaren Raum. Seine Installation Untitled bildete den End- und Höhepunkt der Heft-Bespielung, im auskragenden Teil des verglasten Balkens, dem extremsten Raum der Anlage: Die Sicht in alle Richtungen, die Sonne blendet, es ist heiß, es schwingt. Seine materiellen Eingriffe sind minimal und äußerst präzis: drei Speaker, hängend, in geometrischer Beziehung zu Domenigs Stahlkonstruktion. Der Klang ist raumfüllend und schafft eine auditive Analogie zu den vorgefundenen Überlagerungen von Strukturen und Texturen. Florian Hecker führt aus: Departing from earlier projects that experimented with the impressionistic or even hallucinatory relationship between sonic objects, the auditory encounter, and our self-perception within space, the sound piece advances a more recent line of inquiry engaged with approaches to computational auditory analysis and the synthesis of sensory materials and meaning.“[35]

I still believe that architecture and the ritual aspect of architecture can come to one point, where it is complete, absolute, where it has no other function, than being architecture“, verkündete Hans Hollein schon in den 1990er Jahren.[36] Auch wenn ich es mir oft wünsche oder danach suche, werden diese ungestörten Raumerfahrungen immer rarer. Der Architekturdiskurs ist zunehmend von der wachsenden, im besten Fall geometrischen, aber meist ökonomischen und administrativen Komplexität der Bauprozesse bestimmt. Baudrillard zeigte schon 1984 die Fettleibigkeit aller gegenwärtigen Systeme“ auf. Es ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass eine Bedrohung nicht durch Mangel bedingt ist, sondern im Gegenteil durch das Übermaß an Positivität“.[37] Genau heute sind Momente besonders wichtig, die nur für eine reine Raumerfahrung reserviert sind. Die Heft ist ein solcher Moment.




Verweise:

[1] Liesbeth Waechter-Böhm, Landesausstellung Kärnten – Hüttenberg. Für Grubenhunt und Ofensau“, 18.2.1995, https://​www​.nex​t​room​.at/​b​uildi…, (01.12.2022)

[2] Mario Waste, Domenig Geschichte(n)“, Interview in: Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg 2022 

[3] Günther Domenig arbeitete über einige Jahre an mehreren Entwürfen, zwischenzeitlich gab es sogar eine Ortsänderung und Domenig erarbeitete einen völlig neuen Entwurf für den benachbarten Ort Knappenberg. Die letztendlich gebaute Variante ist eine Sparvariante, was sich in einer Reduzierung der Verglasung des Balkens sowie der nicht winterfesten Ausführung des Kohlebarren äußert.

[4] Die Heft war Studienobjekt und Vorläufer für Domenigs Eingriff in das Dokumentationszentrum am Reichsparteitagsgelände in Nürnberg: Domenig wurde auf Grund einer internationalen Publikation der Heft zum Wettbewerb geladen.

[5] Vierteilige Ausstellung – Heft in Hüttenberg wird zu Ehren Günther Domenigs wachgeküsst‘“, Kleine Zeitung, 09. Mai 2022, https://​www​.klei​ne​zei​tung​.at/k… (01.12.2022)

[6] Von der Reiftanz-Probe, über verschiedene Lectures und Workshops bis zu Party und Konzert

[7] Peter Weibel, Negativer Raum. Skulptur und Installation im 20./21. Jahrhundert, ZKM Karlsruhe 2019, S. 3

[8] Volker Giencke, Steinhaus Forum 24.9.2022

[9] Weibel, a. a. O., S.19

[10] Weibel, a. a. O., S.13

[11]Mark Wigley, Deconstructivist Architecture“, in (Ausst. Kat): Philip Johnson, Deconstructivist architecture – Philip Johnson and Mark Wigley, The Museum of Modern Art 1988, S.10, www​.moma​.org/​c​a​l​e​n​d​a​r​/​e​x​h​ibiti… (01.12.2022)

[12] Waechter-Böhm, a. a. O.

[13] free space“, Bauwelt, 2008, https://​www​.bau​welt​.de/​d​a​s-hef…, (01.12.2022)

[14] Die LIM (Landesimmobiliengesellschaft Kärnten) hat über 140.000 EUR investiert, um die Sanitäranlagen, die Elektrizität und die Begehbarkeit der Heft wiederherzustellen – Grundvoraussetzung für die Öffnung.

[15] Verschiedene Events, Lectures und Workshops wurden fortlaufend in die Ausstellung und das Online-Archiv eingeschrieben.

[16] Kulturzentrum der Europäischen Raumfahrttechnologien in Vitanje und Campus der Wiener Sängerknaben am Wörthersee

[17]AA nanotourism Visiting School, Aljosa Dekleva, Amanda Sperger und Jakob Travnik, Revival of Underused Cultural Infrastructures“, Projektbeschreibung für Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg 2022

[18] Mihály Németh, Sophie Publig, Palimpsest“, 2022, https://​wid​.uni​-ak​.ac​.at/​dimen…, (01.12.2022)

[19]Albert Kirchengast, Ethos des Lebendigen“, Projektbeschreibung in: Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg 2022

[20] Stefanie Armstorfer, Egon Grünwald, Nikolaus Hellmann, Christopher Juwan, Alina Kristler, Alexander Pagitsch, Dalibor Stojakovic mit Albert Kirchengast, Tote Steine“, Seminar Architekturgeschichte und Ethik FH Kärnten und Workshop in: Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg 2022

[21] Waechter-Böhm, a. a. O.

[22] Günther Domenig & Eilfried Huth, Medium Total, 1969 – 1970, https://​www​.guent​her​do​me​nig​.at… (01.12.2022)

[23] Alina Logunova, Peter Marius, Tomaz Roblek, Adam Sinan, Other Matter – Cyber Nature“,in: Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg 2022

[24] Valerie Messini, Bence Pap, Other Matter“, https://​base​.uni​-ak​.ac​.at/cour… (01.12.2022)

[25] Tilman Fabini, Naomi Neururer, Arkady Zavialov, Other Matter – Synthetic Reciprocities“, in: Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg 2022

[26] Brigitte Mahlknecht, Invisible Worlds – DIMENSIONAL, In situ-Pinselzeichnung, Acryl auf Leinwand, in: Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg 2022

[27] Marie-Luise Angerer, Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich/​Berlin (Diaphanes) 2007, S. 10

[28] Angerer, a. a. O., S. 22

[29] Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo mit Stephan Becker und Martin Luce, Die Produktion von Präsenz. Potenziale des Atmosphärischen“ in: archplus 178, Juni 2006, S. 23

[30] Ole W. Fischer, Critical, Post-Critical, Projective“ in: archplus 174, Dezember 2005, S. 95

[31] ebd.

[32] Judith Butler, Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“ in: Theatre Journal, 40(4), 519 – 531, 1988, S. 521

[33] Marie-Luise Angerer, Affekt und Begehren oder: Was macht den Affekt so begehrenswert?“, in: e‑Journal Philosophie der Psychologie, http://​www​.phps​.at/​t​e​x​t​e​/​Anger…, Januar 2006, S. 3

[34] ARobota+, Binich+, in: Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg

[35] Florian Hecker, Untitled, Sound-Installation, in: Günther Domenig: DIMENSIONAL, Ausst. Heft/​Hüttenberg

[36] Hans Hollein, Lectures an der AA School of Architecture, London 1981, https://​www​.you​tube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​i​7​W​n​e​F​6fQoo (01.12.2022).

[37] Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin (Matthes & Seitz) 2010, S.7

Diese Webseite verwendet Cookies. → Mehr erfahren